Auszug aus dem Buch von Ellen G. White, Leben und Wirken,
Kapitel 30: Das Wandeln auf dem schmalen Wege
(ab Seite 218)
Während ich im August 1868 in Battle Creek war, träumte ich, daß ich mich bei einer großen Anzahl von Leuten befand.
Ein Teil dieser Versammelten machte sich reisefertig auf den Weg. Wir hatten schwer beladene Wagen.
Der Weg schien, indem wir reisten, bergan zu führen. Auf einer Seite des Weges war ein tiefer Abgrund, auf der andern eine hohe Mauer , glatt und weiß, …
… wie der harte Putz getünchter Zimmerwände.
Als wir weiter reisten, wurde der Weg schmaler und steiler. An einigen Plätzen schien er so außerordentlich schmal zu sein,
daß wir zu der Überzeugung kamen, daß wir nicht länger mit den beladenen Wagen reisen konnten.
Wir lösten sie von den Pferden, nahmen einen Teil des Gepäcks von den Wagen herunter, legten es auf die Pferde und reisten zu Pferde weiter.
Als wir weiter vordrangen, wurde der Weg immer noch schmaler. Wir sahen uns gezwungen, uns hart an die Wand zu drücken,
um nicht von dem schmalen Wege den steile Abgrund hinabzufallen. Als wir dies taten, presste das Gepäck auf den Pferden gegen die Wand
und hatte zur Folge, daß wir gegen den Abgrund hin geschoben wurden. Wir fürchteten, daß wir fallen und auf den Felsen in Stücke zerschlagen werden würden.
Dann schnitten wir das Gepäck von den Pferden, und es fiel in den Abgrund hinab.
Wir ritten weiter und waren in großer Furcht, daß wir, da wir an engere Stellen des Weges kamen, unser Gleichgewicht verlieren und fallen würden.
Zu solchen Zeiten schien eine Hand den Zügel zu ergreifen und uns über den gefährlichen Weg zu geleiten.
Als der Pfad enger und enger wurde, erkannten wir, daß er nicht länger sicher sei, zu Pferde weiterzureisen,
so ließen wir die Pferde dahinten und gingen zu Fuß, im Gänsemarsch, einer in den Fußstapfen des andern folgend.
An dieser Stelle wurden von der Spitze der reinen, weißen Mauer kleine Stricke niedergelassen; diese ergriffen wir begierig,
um uns auf dem Pfade im Gleichgewicht zu halten. Im Weiterreisen bewegte sich der Strick mit uns.
Der Pfad wurde schließlich so schmal, daß wir zu der Überzeugung kamen, daß wir sicherer reisen konnten ohne unsere Schuhe;
so entfernten wir sie von unsern Füßen und gingen eine Strecke weit ohne dieselben.
Bald wurde beschlossen, daß wir sicherer reisen konnten ohne unsere Strümpfe; so wurden diese entfernt, und wir reisten barfuss weiter.
Dann dachten wir an diejenigen, die sich nicht an Mühsale und Beschwerden gewöhnt hatten. Wo waren dieselben jetzt?
Sie waren nicht unter der Schar.
Bei jedem Wechsel wurden einige zuzückgelassen, und nur diejenigen blieben, die sich daran gewöhnt hatten, Mühsale zu ertragen.
Die Beschwerden des Weges machten sie nur noch begieriger, bis zum Ende vorwärts zu dringen.
Unsere Gefahr, von dem Pfade herabzufallen, nahm zu. Wir drängten uns dicht an die weiße Wand, konnten jedoch unsere Füße nicht ganz auf den Pfad setzen,
denn er war zu schmal. Dann hingen wir beinahe mit unserm ganzen Gewicht an den Stricken und riefen aus:
„Wir haben einen Halt von oben! Wir haben einen Halt von oben!“
Dieselben Worte wurden von der ganzen Schar auf dem schmalen Wege ausgesprochen.
Wir erschauderten, als wir Stimmen der Lustbarkeit und Ausgelassenheit vernahmen, die aus dem Abgrunde unter uns zu kommen schienen.
Wir hörten den gottlosen Fluch, den rohen Spaß und gemeine, lasterhafte Lieder.
Wir hörten das Kriegslied und das Tanzlied. Wir hörten populäre Musik und lautes Gelächter, vermischt mit Fluchen und Schmerzensrufen und bitterem Wehklagen,
und wir waren besorgter denn je, auf dem engen, schwierigen Pfade zu bleiben.
Die meiste Zeit waren wir gezwungen, mit unserm ganzen Gewicht an den Stricken zu hängen, die an Größe zunahmen, je weiter wir vorwärtsdrangen.
Ich sah, daß die schöne, weiße Wand mit Blut befleckt war.
Es rief ein Gefühl der Trauer hervor, die Wand auf diese Weise befleckt zu sehen.
Dieses Gefühl währte jedoch nur einen Augenblick, da ich bald dachte, daß dies so war, wie es sein sollte.
Diejenigen, die nachfolgen, werden dann wissen, daß andere den schmalen, schwierigen Weg vor ihnen gegangen sind,
und werden zu dem Schlusse gelangen, daß wenn andere imstande gewesen sind, voranzugehen, sie dasselbe tun können.
Und wenn das Blut aus ihren schmerzenden Füßen gepresst wird, werden sie nicht vor Entmutigung vergehen,
sondern werden, indem sie das Blut an der Wand sehen, wissen, daß andere dieselben Schmerzen erduldet haben.
Zuletzt kamen wir zu einer großen Kluft, bei der unser Pfad aufhörte. Wir hatten jedoch nichts, um unsere Füße zu leiten, nichts, worauf sie ruhen konnten.
Wir mußten unser ganzes Vertrauen auf die Stricke setzen, die an Größe zugenommen hatten, bis sie so groß geworden waren wir unsere Leiber.
Hier gerieten wir eine Zeitlang in Verwirrung und Not. In ängstlichem Flüstertone fragten wir: „Woran ist der Strick befestigt?“
Mein Mann war gerade vor mir. Große Schweißtropfen fielen von seiner Stirn;
die Adern an seinem Halse und an seinen Schläfen waren doppelt so groß wie gewöhnlich angeschwollen,
und von seinen Lippen kam unter- drücktes, qualvolles Stöhnen.
Der Schweiß rann mir vom Gesicht, und ich fühlte eine solche Qual, wie ich sie nie vorher verspürt hatte.
Ein furchtbarer Kampf war vor uns.
Wenn wir hier unterliegen würden, so würden all die Schwierigkeiten unserer Reise umsonst durchgemacht worden sein.
Vor uns, auf der andern Seite der Kluft, lag ein mit ungefähr sechs Zoll hohem Gras bedecktes schönes Gefilde.
Ich konnte die Sonne nicht sehen, aber helle, milde Lichtstrahlen, die seinem Golde und Silber glichen, ruhten auf diesem Gefilde.
Nichts, was ich auf Erden gesehen hatte, konnte an Schönheit und Herrlichkeit mit diesem Gefilde verglichen werden.
Aber würden wir hinübergelangen können?, war die ängstliche Frage. Würde der Strick reißen, so müßten wir verloren gehen.
Wiederum hauchten wir in unterdrückter Angst die Worte: „Was hält den Strick?“
Einen Augenblick zögerten wir, uns vorwärts zu wagen.
Dann riefen wir aus:
„Unsere einzige Hoffnung besteht darin, uns gänzlich dem Stricke anzuvertrauen. Wir sind auf dem ganzen schwierigen Wege von ihm abhängig gewesen. Er wird uns jetzt nicht versagen.“
Aber wir zögerten immer noch und waren in großer Not. Dann wurden die Worte gesprochen:
„Gott hält den Strick. Wir brauchen uns nicht zu fürchten.“
Diese Worte wurden von denen hinter uns wiederholt, und es wurden die Worte hinzugefügt:
„Er wird uns jetzt nicht verlassen. Er hat uns sicher bis hierher gebracht.“
Mein Mann schwang sich dann über den furchtbaren Abgrund in das schöne Gefilde hinüber. Ich folgte sofort.
Und o, welch ein Gefühl der Erleichterung und Dankbarkeit zu Gott nahm von uns Besitz!
Ich hörte, wie sich Stimmen zum triumphierenden Lobe Gottes erhoben. Ich war glücklich, vollkommen glücklich.
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Ich ziehe absolut den Hut vor Frau White – und denke
und wünsche mir, daß wir uns hier, Schwestern wie auch Brüder, „eine Scheibe abschneiden mögen“ …